Der lange Abschied

Eine Krankheit verändert alles, auch eine Familie.

Dr. Tobias Korenke, bei yeswecan!cer für die Kommunikation zuständig, schreibt hier über seine Geschichte mit dem Krebs, den Tod, die Liebe und was in schwierigen Situationen hilft.

Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer. Das erste Mal begegneten wir uns im historischen Seminar der Universität Freiburg, wo wir beide studierten. Sofort war alles klar. Wir feierten viel in diesem Sommer, machten Touren in die Natur, lasen uns gegenseitig vor, was uns gerade beschäftigte oder was wir selbst geschrieben hatten, diskutierten über Zeitungsartikel, Bücher, Musik, Filme, Politik, ach, über das Leben. Wir lernten, kochten und tranken zusammen, reisten viel und freundeten uns überall, wo wir waren, mit wunderbaren Menschen an. Natürlich stritten wir auch, es gab schwierige Momente, vielleicht sogar Krisen. Klar war aber vom ersten Moment an: Wir gehören zusammen und wollen gemeinsam unseren Weg gehen. Es war ein großer, enthusiastischer Sommer. Er dauerte fast dreißig Jahre.

Unsere jüngste Tochter war gerade eingeschult worden als Susanna die Diagnose bekam. Sie hatte beim Abtasten ihrer Brüste einen kleinen Knoten entdeckt, war auch sofort zu ihrer Frauenärztin gegangen, die stellte aber nur eine Verdickung der Milchdrüsen fest. Verschenkte Zeit, die der Krankheit Vorsprung gab. Als sie feststellt, dass der Knoten wuchs, suchte Susanna sofort eine andere Ärztin auf, die sofort alle notwendigen Untersuchungen vornahm und uns bald mitteilte: Brustkrebs in einer besonders radikalen Form, glücklicherweise noch nicht metastasiert.

Das war wenige Wochen nachdem wir uns entschlossen hatten, ein Häuschen in Berlin zu kaufen. Lange hatten wir Sorge, dass uns eine Immobilie immobil machen würde. Jetzt schien der richtige Zeitpunkt, Wurzeln zu schlagen. Das Haus war in einem erbarmungswürdigen Zustand und vor allem Susanna plante mit großer Leidenschaft den Umbau. Es sollte ein Ort werden, in dem sich unsere drei Töchter wohlfühlen und wir für die kommenden Jahre als Familie und immer wieder auch mit Freunden leben und arbeiten würden. Umbauchaos und unaufschiebbarer Umzug, weil wir unsere alte Mietwohnung schon gekündigt hatten – wir hätten schon dafür alle Kraft gebraucht. Nun, mit der Diagnose, begann der Boden zu schwanken. Unzählige Fragen prasselten auf uns ein: Wer ist der beste Arzt? Was für eine Klinik kommt in Frage? Welche Therapie ist die geeignete? Ganz besonders trieb uns die Frage um, wann wir es den Kindern, die damals 6, 11 und 16 Jahre alt waren, erklären und zwar so, dass wir ihnen nichts vormachen, sie aber auch nicht mit ständiger Angst leben müssen.

„It takes a village to raise a child“, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Ich weiß jetzt, dass es das sprichwörtliche Dorf auch braucht, um mit einer schweren Krankheit umzugehen. Wir hätten die nun kommenden Wochen, Monate und Jahre nicht überstanden ohne unsere Familien, Freunde und Nachbarn. Sie kümmerten sich um unsere Kinder, stiegen in den Umbau des Hauses ein, hielten uns den Rücken frei während wir auf eine Odyssee durch Kliniken und Praxen gingen und ich irgendwie auch noch meinem Beruf nachkam. Das Wichtigste: Sie gaben den Kindern das Gefühl, nie allein zu sein. Unvergessen etwa als unsere jüngste Tochter bei einer Theateraufführung mitspielte, der sie wochenlang entgegengefiebert hatte, Susanna in der Klinik lag und ich bei ihr sein wollte, weil es ihr sehr schlecht ging. Mein Bruder schickte seine vier halbwüchsigen Söhne mit ihren Freundinnen ins Theater und Clara wurde gefeiert wie ein Star!

Es war auch ein Freund, der uns einen Kontakt herstellte zu einem großartigen Arzt, der nicht nur enorm erfahren war, sondern sich auch Zeit nahm, um all das zu erklären, was jetzt kommen würde. Und wir konnten in Ruhe mit unseren Töchtern sprechen, ihnen deutlich machen, dass die Krankheit ernst sei, es aber Hoffnung gäbe, denn jeder Krebs sei anders, wie uns unser Arzt sagte.

Die erste Chemotherapie hat Susanna vergleichsweise gut überstanden. Als die Haare auszufallen begannen, rasierte sie sich kurzentschlossen den Kopf. Sie trug fortan aparte Mützen oder schöne bunte Tücher, aber es war jetzt für alle zu erkennen, dass sie ernsthaft krank ist. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich. Gar nicht so wenige Menschen zogen sich wortlos zurück. Einige bedankten sich für die Offenheit und erzählten ihre eigene Krebsgeschichte oder naher Angehöriger, die allzu häufig im Verborgenen stattgefunden hatte. Für unsere Freunde aber gehörte der kahle Schädel selbstverständlich dazu.

Auf die Chemo folgte eine Totaloperation, darauf die Bestrahlung. Susanna erholte sich von den Strapazen. Wir spürten, dass wir Zeit geschenkt bekommen haben. Zeit für uns beide, Zeit für unsere Kinder. Heute denke ich, ich hätte den Job an den Nagel hängen und mir mehr Freiräume schaffen müssen. Aber immerhin, wir setzten unseren gemeinsamen Sommer fort, machten so viel zusammen wie es ging, unternahmen Reisen, gingen dorthin, wo wir es liebten: ins Theater, Konzert, Kino, zu Freunden.

Während eines Aufenthalts in Venedig, anderthalb Jahre nach der ersten Diagnose, begann Susanna zu husten. Die regelmäßigen Untersuchungen, denen wir immer mit Sorge entgegensahen, waren bis dahin glücklicherweise ergebnislos geblieben. Nun wurden Metastasen in der Lunge entdeckt, kurze Zeit später auch im Gehirn. Die Perspektiven waren schlecht. Wir hatten immer gewusst, dass das passieren kann, doch das Rezessiv zog uns den Boden unter den Füßen weg. Wieder war es das sprichwörtliche Dorf, das uns auffing. Familie, Freunde, Nachbarn umsorgten uns und gaben uns den Raum, den wir jetzt brauchten, um alle Energie auf die Behandlung zu konzentrieren. Es folgten Chemotherapien, Bestrahlungen, begleitet von naturkundlichen Verfahren. Susanna hat das alles mit einer enormen Stärke durchgestanden. Ihre Kraft begann nachzulassen, wir versuchten dennoch, ein gutes gemeinsames Leben zu führen. Susanna war es natürlich wichtig, viel Zeit mit den Töchtern zu verbringen. Das funktionierte wegen zahlreicher Klinikaufenthalte immer seltener, aber wenn sie da war, dann ließ sie sich mit allem, was sie war, auf die Kinder ein. Es waren harte Monate, aber vielleichte waren es auch die wertvollsten in unserem gemeinsamen Leben, die, in denen wir uns am nächsten waren.

Susanna hat es nicht geschafft. Sie starb im Oktober 2017, rund fünf Jahre nach der ersten Diagnose, gerade einmal 51 Jahre alt, bei uns zuhause. Ihr Tod hat alles verändert. Das Vermissen hört nicht auf. Immer wieder sticht die Trauer direkt ins Herz. Doch unser gemeinsamer, langer Sommer bleibt. Den konnte uns der Krebs nicht nehmen.

Ich habe viel gelernt. Über die Liebe und ihre Größe und Kraft, über den Krebs und wie Menschen mit ihm umgehen – und über mich. Eins weiß ich genau: Einsamkeit können wir besser mit anderen ertragen. Das ist auch der Grund, warum ich bei yeswecan!cer mitarbeite: Wir wollen, dass sich niemand mit Krebs alleine fühlt – weder die Erkrankten, noch die Angehörigen. Jede und jeder zweite erkrankt in Deutschland im Laufe ihres und seines Lebens an Krebs. Es ist Zeit, offen über die Krankheit zu reden, sie von Tabus und Stigmatisierungen zu befreien, sie in die Mitte unserer Gesellschaft zu rücken, deutlich zu machen, dass jeder Moment des Lebens zählt, auch mit Krebs, gerade mit Krebs. Yeswecan!cer ist ein virtuelles Dorf, das dabei hilft, mit Krebs zu leben und hoffentlich zu überleben.

yeswecan!cer

Die digitale Selbsthilfeinitiative wurde vor drei Jahren vom Medienunternehmer Jörg A. Hoppe und Freunden gegründet. Die Ziele: Krebs in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und erkrankte Menschen so zu stärken, dass sie sich in dieser Phase ihres Lebens nicht allein fühlen. Herzstück der Bewegung ist die „YES!APP“, die Zugang zum Betroffenen-Netzwerk, zu Medizinern und Experten aus allen Disziplinen ermöglicht und Informationen rund um die Krankheit bietet. Zu den prominenten Unterstützern gehören neben zahlreichen Medizinern Prominente wie Joko Winterscheidt, Jan Josef Liefers oder Tim Mälzer.

aus: Myself, Dezember 2021

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